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Scheinselbständigkeit im Fokus: Warum Ein-Personen-GmbHs keinen Schutz bieten – Auswirkungen für IT-Projekte und agile Modelle

20. November 2025

Das BSG hat entschieden, dass die Zwischenschaltung einer Ein-Personen-GmbH nicht vor der Feststellung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung schützt. Maßgeblich bleibt die tatsächliche Eingliederung der natürlichen Person in die Arbeitsorganisation. Die Grundsätze sind auf viele Branchen übertragbar – insbesondere IT-Projekte, Freelancer-Konstellationen und Scrum-Teams. Trotz bestehender Rechtsprechung zugunsten echter Selbstständigkeit bleibt das Risiko hoch, wenn Weisungsstrukturen, Teamintegration oder einseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten vorliegen. Unternehmen sollten daher Projektpraxis, Dokumentation und Vertragsgestaltung konsequent aufeinander abstimmen.

News zum Thema Recht bei LKC Ottobrunn

1. Immer wieder aktuell – Scheinselbständigkeit und Sozialversicherungspflicht

Ein-Personen-GmbH schützt nicht vor Arbeitnehmereigenschaft – Konsequenzen auch für die IT-Branche und agile „Scrum“-Modelle

Mit Urteil vom 20.07.2023 (B 12 R 15/21 R) hat das Bundessozialgericht (BSG) klargestellt, dass die Zwischenschaltung einer Ein-Personen-Gesellschaft nicht vor der Feststellung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung schützt. Entscheidend bleibt die tatsächliche Eingliederung der natürlichen Person in die Arbeitsorganisation des Einsatzunternehmens.

Der Leitsatz bringt dies auf den Punkt:

Die Tätigkeit eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer Ein-Personen-Gesellschaft für einen Dritten begründet nach der im Sozialversicherungsrecht herrschenden Eingliederungstheorie ein Beschäftigungsverhältnis zwischen Einsatzunternehmen und der überlassenen Person, unabhängig von einer (illegalen) Arbeitnehmerüberlassung.

2. Der entschiedene Fall: Krankenpfleger mit Ein-Personen-GmbH im Krankenhaus

Dem Urteil lag ein klassischer „Freelancer-Fall“ im Gesundheitswesen zugrunde:

  • Ein Krankenpfleger ist alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH.
  • Diese GmbH schließt mit einem Krankenhaus Dienstleistungsvereinbarungen über Pflegetätigkeiten auf einer Intensivstation (Weaning-Schwerpunkt).
  • Honorierung auf Stundenbasis; formal kein Arbeitsverhältnis, keine Weisungsgebundenheit, Möglichkeit zur Heranziehung von Hilfspersonen etc.

Auf Antrag des Krankenhauses stellte die DRV Bund im Statusfeststellungsverfahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung des Pflegers beim Krankenhaus fest. SG und LSG verneinten dies mit der Begründung, Vertragspartner sei ausschließlich die GmbH.

Das BSG folgt dem ausdrücklich nicht. Es betont, dass über die sozialversicherungsrechtliche Einordnung nicht dispositiv entschieden werden kann:
Über zwingende Normen der Sozialversicherung kann nicht im Wege der Privatautonomie verfügt werden.
Für die Beurteilung, ob eine Beschäftigung nach § 7 Abs. 1 SGB IV vorliegt, kommt es daher nicht primär auf die formale Vertragslage (GmbH – Krankenhaus) an, sondern auf die tatsächliche Tätigkeit des Pflegers im Krankenhausbetrieb.

3. Vom Krankenhaus zur IT-Branche: Warum das Urteil unmittelbar übertragbar ist

Der konkrete Fall betrifft zwar einen Krankenpfleger, die vom BSG herausgearbeiteten Grundsätze sind jedoch branchenneutral:

Dreiecksverhältnis

  • Gesellschaft (GmbH/UG)
  • Einsatzunternehmen (Krankenhaus, IT-Konzern, Bank etc.)
  • Natürliche Person (Pflegekraft, IT-Entwickler, Berater)

Formale Vertragsparteien

  • Die Verträge laufen nur zwischen den juristischen Personen (z. B. GmbH des Freelancers und Auftraggeber).

Tatsächlicher Einsatz

  • Die eine Person wird unmittelbar im Betrieb des Auftraggebers eingesetzt, arbeitet mit dessen Personal und in dessen Strukturen.

Genau diese Struktur findet sich heute in der IT-Branche in großer Zahl wieder:

  • Solo-Selbstständige Entwickler oder Berater gründen eine Ein-Mann-GmbH oder UG.
  • Diese GmbH wird in Rahmen- und Projektverträgen als „Auftragnehmerin“ geführt.
  • Die natürliche Person arbeitet faktisch wie ein Mitarbeiter im Projekt- oder Produktteam des Auftraggebers, häufig über Monate oder Jahre.

Das BSG stellt nun klar:
Auch wenn formal nur GmbH und Auftraggeber Vertragsparteien sind, kann zwischen Einsatzunternehmen und der natürlichen Person ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestehen, wenn Eingliederung und Weisungsgebundenheit überwiegen.

Diese Linie wird zusätzlich durch § 7a Abs. 2 Satz 2 SGB IV und § 2 Satz 1 Nr. 9 Buchst. b SGB VI gestützt, die den Blick ausdrücklich auf das Verhältnis zur „Drittpartei“ (Einsatzunternehmen) lenken.
Damit ist die Übertragung auf die IT-Branche nicht nur möglich, sondern vom Gesetzgeber angelegt.

4. Bestehende Rechtsprechung speziell zur IT-Branche

Die Sozialgerichte haben sich bereits in mehreren Entscheidungen mit IT-Spezialisten, Programmierern und IT-Beratern befasst:

BSG, Urt. v. 14.03.2018 – B 12 KR 12/17 R (IT-Spezialist/EDV-Berater)

  • IT-Spezialist arbeitet als Einzelunternehmer, wird über eine IT-Service-GmbH bei Endkunden eingesetzt.
  • Das BSG betont die Bedeutung der tatsächlichen Eingliederung bei Konstellationen mit mehr als zwei Beteiligten (IT-Dienstleister – Endkunde – IT-Freelancer). (BSG)

SG Stuttgart, Urt. v. 27.01.2017 – S 12 R 6267/13 (IT-Berater Hard-/Software)

  • Ein IT-Berater (Hard- und Softwareentwickler) wird trotz längerfristiger Projektarbeit als selbstständig eingestuft.
  • Hervorgehoben werden u. a. die eigenverantwortliche Arbeitsorganisation und das unternehmerische Risiko. (Anwalt)

Scrum-Konstellation – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2021 – L 8 BA 1374/20

  • Systementwickler/Programmierer arbeitet im Rahmen von Scrum für ein IT-Unternehmen.
  • Die DRV hatte zunächst eine abhängige Beschäftigung angenommen; das LSG stuft den Programmierer dagegen als freien Mitarbeiter ein.
  • Nach Auffassung des LSG sind die bearbeiteten „Arbeitspakete“ als eigenständige Aufträge zu werten; der Entwickler wählt, welche Pakete er übernimmt, und bleibt organisatorisch hinreichend frei. (CMShS Bloggt)

Diese Rechtsprechung zeigt zweierlei:
Ja, die IT-Branche steht im Fokus der Sozialgerichtsbarkeit.
Nein, Scrum oder IT-Projekte führen nicht automatisch zur Scheinselbstständigkeit – aber sie sind auch kein „sicherer Hafen“. Entscheidend bleibt die konkrete Ausgestaltung.

5. „Scrum Working“ als Risikofeld – im Lichte des BSG-Urteils

Agile Methoden wie Scrum kombinieren genau jene Elemente, die aus Sicht der Sozialversicherung kritisch sind:

  • feste Sprint-Takte und regelmäßige Meetings (Daily, Review, Retro),
  • abgestimmte Backlogs und gemeinsame Zielverfolgung,
  • intensive Zusammenarbeit im Team des Auftraggebers.

Das BSG betont in Ihrem Urteil erneut:
Anhaltspunkte für Beschäftigung sind insbesondere Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation und Tätigkeit nach Weisungen, wobei bei „Diensten höherer Art“ die Weisungsgebundenheit zu einer „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein kann.

Gerade in Scrum-Teams ist die Tätigkeit der IT-Freelancer oft:

  • räumlich, zeitlich und organisatorisch eng mit dem Auftraggeber verzahnt,
  • fachlich durch Product Owner oder Lead-Architekten mitgeprägt,
  • wirtschaftlich ausschließlich auf einen Auftraggeber fokussiert.

Gefahr:
In Kombination mit einer Ein-Personen-GmbH entsteht genau das vom BSG beschriebene Dreiecksverhältnis, in dem die formale „Zwischenschaltung“ der Gesellschaft sozialversicherungsrechtlich ignoriert werden kann.

Aber:
Das LSG Baden-Württemberg zeigt, dass agiles Arbeiten auch als Indiz für Selbstständigkeit gewertet werden kann, wenn der Programmierer:

  • eigenständig bestimmt, welche Aufgabenpakete er übernimmt,
  • seine Arbeitszeit weitgehend frei gestaltet,
  • mehrere Auftraggeber bzw. nachweisbare Marktpräsenz hat und
  • in wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht eigenständig bleibt. (CMShS Bloggt)

6.Praxishinweise für Mandanten in der IT-Branche

Für Mandanten, die IT-Fachkräfte – insbesondere über Ein-Personen-GmbHs – einsetzen, ergeben sich folgende Konsequenzen:

Ein-Personen-GmbH ist kein Schutzkonzept
Die bloße Zwischenschaltung einer Kapitalgesellschaft verhindert nach der BSG-Rechtsprechung keine Versicherungs- und Beitragspflichten, wenn die natürliche Person faktisch wie eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer eingesetzt wird.

Scrum- und Projektstrukturen dokumentieren
In Scrum-Setups sollte genau dokumentiert werden,

  • welche Freiheitsgrade der IT-Freelancer hat,
  • ob Arbeitspakete vereinbart oder Aufgaben „zugewiesen“ werden,
  • ob eine echte Ergebnisverantwortung besteht oder nur Mitarbeit im Prozess.

Statusfeststellungsverfahren nutzen
Bei kritischen Konstellationen kann ein frühzeitiges Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV helfen, das Risiko zu kanalisieren – auch im Hinblick auf etwaige Haftungsrisiken bei Ein-Personen-GmbHs.

Vertragsgestaltung UND gelebte Praxis
Entscheidend ist nicht der Vertragstext, sondern die gelebte Realität. Vertragsklauseln („keine Weisungen“, „freie Zeiteinteilung“) müssen im Projektalltag tatsächlich umgesetzt werden.

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